Ein Mittelständler erfindet sich neu Selve total – Strategiemanagement in vier Stufen

Das Coronajahr bewusst für die Neuaufstellung in allen Unternehmensbereichen genutzt zu haben, will sich die Selve Geschäftsführung nicht ans Revers heften, der Erneuerungsprozess läuft schon seit 2019. Beeindruckend ist es allemal, wie Ludger Stracke und Andreas Böck den Mittelständler vom Kopf auf die Füße stellen.

Der Selve Total Workshop richtete sich an die Kreativlinge der Firma, um angestrebte Fortschritte wie Prozessoptimierung, Kundenfokussierung und Marktnähe in den Mittelpunkt der künftigen Strategie zu stellen. - © Selve

„Vieles wird davon abhängen, ob das Jahr ein V, ein U oder ein L wird“, greift der langjährige Marketing- und Produktionsverantwortliche auf, was in den Bulletins der Wirtschaftsanalysten zu lesen ist: Das V steht – vereinfacht gesagt – für eine schnelle Erholung ohne dauerhafte Verluste, etwa wenn, wie cash-online.de erklärt, die Zentralbanken genügend Liquidität gebunkert haben, um Verwerfungen an den Kapitalmärkten wirksam zu begegnen. Nicht so schön ist das U-Szenario, bei dem die mangelhafte Bereitschaft, ins Risiko zu gehen, für eine Nachfrageverknappung sorgte – ähnlich den Erfahrungen nach dem Platzen der Dotcom-Blase 2000/01. Folgte die konjunkturelle Entwicklung schließlich der L-Form, reagierten europäische und US-amerikanische Spieler mit der Diversifikation ihrer Lieferketten und einem wachsenden Trend zurück zur Deglobalisierung auf die derzeit mit 18 Prozent in beiden Weltregionen bezifferten Rückgänge bei Nachfrage und Angebot; das China-BIP bräche ein, Spannungen (nicht nur protektionistisch motivierte) in den drei Märkten wären die Folge. In Amerika, das noch ergänzend, sind dank deregulierter Arbeitsmärkte die Erwerbslosen zahlen das vierte Mal in Folge nicht weiter angestiegen.

Zurück zu Selve: Was das Unternehmen in Lüdenscheid angestoßen hat – grundlegende Verbesserungen durch eine Neuaufstellung in den Unternehmensbereichen Administration, Produktion (Böck: „Da sind wir am weitesten“), Bestandsmanagement, Logistik – ist auf kein einzelnes Szenario abgestimmt. Vielmehr, sagt Böck, „müssen wir unsere Hausaufgaben machen“. Das wiederum setzt einige Schritte zwingend voraus: das Erkennen, dass es Potenzial für Optimierung gibt, die Bereitschaft, durch Veränderungen auf Management- wie Prozessebene die Weichen dafür zu stellen, dieses Potenzial zu heben – und die Fähigkeit jedes Einzelnen, den Zug auch in die richtige Richtung fahren zu lassen. Der Unternehmenssprecher selbst beziffert den Fortschritt bei der Umsetzung der angestoßenen Maßnahmen in der Produktion mit 80 Prozent, in der Administration mit 60 Prozent, im Bestandsmanagement mit zehn Prozent, in der Logistik startet das Projekt derzeit.

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Damit es kein Proseminar wird, hilft ein Beispiel, zu verstehen, um welche Art Veränderung es gehen kann und wie weitreichend Folgen sein können. „Als wir 2019 mit unserem externen Berater über Potenziale bei Selve gesprochen haben, stellte er die Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes heraus. Wir würden nur nach vorne kommen, so analysierte er, wenn wir bei der Verbesserung der Abläufe alle Prozesse von der Auftragsannahme bis zur Belieferung des Kunden bewerten und optimieren würden“, erinnert sich Andreas Böck. Die Bestandsaufnahme ergab, dass bisweilen Reibungsverluste bis hin zu Verzögerungen in der Auftragsbearbeitung entstehen, wenn beispielsweise die Person, die im ersten Kundenkontakt mit dem Besteller ist, nicht auf Anhieb alle Key Points wie Waren- und Materialverfügbarkeit, etwaige erforderliche Produktspezifikationen oder technische Besonderheiten der beabsichtigten Anwendung durchdringt. Reagiert hat Selve sofort, indem nunmehr Rolf Schneider die Kollegen in der Annahme unterstützt; er ist mit dem Sortiment und bspw. einzelnen Antriebsdetails so gut vertraut, dass seine Expertise verhindern soll, dass es zum Hin und Her der in einem Workshop exemplarisch designten SwimLane kommt. Denn nur, wenn wie bei der olympischen Schwimmstaffel die Übergabe des Staffelstabs klappt, gehen keine Ressourcen verloren, maximiert der Lieferant Erträge und ist der Kunde zufrieden.
Apropos Erträge: Die konnte Selve in der jüngeren Vergangenheit steigern, Böck spricht von einem Zielkorridor von fünf bis zehn Prozent, aktuell ist noch Luft nach oben. Ein stabiler Stützpfeiler ist die Marktnähe der Projekte: „Leider haben wir auch schon für 35.000 Euro eine schaltbare Steckdose entwickelt, von der dann 41 Stück verkauft wurden. Das müssen und werden wir in Zukunft besser machen.“ Positive Beispiele für gelungene und erfolgreiche Entwicklungsprojekte seien dagegen das Dauerthema Hochschiebesicherung und die Abwärtskompatibilität in der Antriebstechnik. Auch im Bereich der Markisenantriebe gelang es, Impulse der Kunden aufzunehmen – und erfolgreich umzusetzen. Den Nutzwert für Käufer- und Profikundengruppen der Innovation hinter dem Arbeitstitel SEM (Selve-Elektronik-Markisen) 2.0 beschreibt der marketingaffine Geschäftsführer mit dem Claim „Aus zwei mach eins“ – statt eines separat anzubringenden, mehr als 30 Euro teuren Bewegungssensors, bei dem dazu noch regelmäßig Batterien gewechselt werden müssen, haben die Selve Entwickler um Dr. Jost Weiper den Auflaufschutz in den Antrieb integriert. Die Mehrkosten sollten überschaubar sein; Branchenbetriebe erhalten Einblick in den Status quo bei diesem und anderen Themen aus Lüdenscheid anlässlich der 2021 vom 23. bis zum 27. Februar digital veranstalteten R+T.
Was sagt der glühende Fan des VfL Bochum zum pandemiebedingt neuen Messeformat der Stuttgarter? „Selve ist in der deutschen Rollladenbauer- und Fensterbauer-Community fest verwurzelt und freut sich auf die Premiere. Noch lieber wäre mir persönlich eine baldige Rückkehr zu echten Branchenveranstaltungen“, bekennt sich der Chef zum Comeback auf der Showbühne: „Wir verkaufen keine Dienstleistungen à la AirBnB oder Uber. Unsere Produkte will der Kunde in die Hand nehmen, ausprobieren und mit dem Außendienstmitarbeiter seines Vertrauens diskutieren.“

IN VERBINDUNG BLEIBEN

Für Gesprächsstoff könnte die Reorganisation des Bestellwesens beim Lüdenscheider Antriebshersteller sorgen. Konkret wollen Ludger Stracke und Andreas Böck ihren Marktpartnern eine Erreichbarkeit von 24/7 bieten, dazu ist das ERP-System des Betriebs mit dem im Aufbau befindlichen Kundenportal des Herstellers verlinkt, diesen Ansatz verfolgen heute viele Lieferketten. Wer Motoren in Lüdenscheid ordert, hat über die elektronische Schnittstelle EDI Zugang zu früheren Auftragsdaten, prüft den Bearbeitungsstatus oder erneuert seine Bestellung. Gleichzeitig verweist Andreas Böck auf die Möglichkeiten, durchzuklingeln oder zu faxen, die bestehen bleiben sollen, aber dauerhaft in den Hintergrund rücken dürften.
Selve hat sich hinterfragt und für sich als leistungsstarken, mittelständischen Anbieter mit gesicherter Finanzierung durch starke Eigentümer festgelegt, entlang welcher Leitlinien sich das Unternehmen innert der nächsten Jahre entwickeln soll: „Wir wollen unserem Kunden das Leben einfacher machen“, bringt es Böck auf den Punkt, der erwartet, dass sich die Gewichte vom Rollladen- mittelfristig zum Fensterbauer hin verschieben. Damit rücken anwenderfreundliche Plug-and-Play-Konzepte noch mehr in den Fokus. Am Ende sollte nicht die L-, U- oder V-Frage der Maßstab sein, an dem sich solide Firmen orientieren, sondern der eigene Anspruch. Dann wird mit einiger Wahrscheinlichkeit das große W, W für Win, in den Bilanzen stehen.

Reinhold Kober